Maßstäbe

Für alles was wir tun haben wir eine Erklärung, eine innere Begründung. Darin unterscheiden sich Heilige und Mörder nicht. Wenn demnach meine inneren Begründungen keine wirkliche Orientierung sein können, stellt sich die Frage nach einem äußeren Maßstab, einem Maßstab, der nicht von meiner begrenzten Wahrnehmung oder meiner begrenzten Weltsicht abhängig ist. Wenn ich mich frage, wo ich die längste Erfahrung vorfinde, so kommt als Extrem die Evolution in dem Blickpunkt. Dort kann ich, so meine Hoffnung, die Entsprechungen finden, die mir Orientierung geben.

Entsprechung im Großen: Wie erfüllt die Evolution ihren Sinn?

Ständiger Wandel:
In der Evolution können wir erkennen, dass Stillstand Tod und Veränderung, ständiger Wandel, Leben bedeutet. Als Überlebensstrategie könnte hier die Fähigkeit zur Anpassung an ein sich änderndes Umfeld betrachtet werden. Dabei lehrt uns die Evolution auch, dass wir aus dem direkt Beobachtbaren nicht auf die innere Dynamik schließen dürfen. Der Kalkkreislauf auf der Erde hat eine Zykluszeit von ca. 40.000 Jahren. Auch wenn wir keine Veränderung an der Kalkkonzentration im Meerwasser feststellen können, wird das Überleben der Korallen für uns existentiell wichtig sein. Der absolute Wert einer Größe, eines Merkmals oder deren Veränderung sagt nichts über die dahinter liegende Dynamik aus. Diese können wir uns nur über ein Verständnis der Wirkungsmechanismen erschließen.
Rekursion: Dies bedeutet, dass alles sich selbst wieder beeinflusst. Damit auch, dass alles was wir tun auch uns selbst wieder beeinflusst. Wir können dies z.B. am Räuber-Beute-Zusammenhang erkennen. Rekursion führt bei negativer Rückkoppelung zur Begrenzung auf eine Zielgröße hin. Eine positive Rückkopplung führt zu einer Instabilität, zu einer Entwicklung in die Extreme. Alles ins Übergroße ausufernde stirbt aus, alles ins Kleine tendierende geht in eine Symbiose. Die Teilchenphysik lehrt uns hier im Extrem die Dualität von Energie und Materie.
Nutzen: Alles was existiert hat einen Nutzen und dieser stellt die Existenzberechtigung im Außen dar. Gleichzeitig sorgt jedes Lebewesen auch in guter Weise für sich. Es ist hier die Ausgewogenheit zwischen Selbstbehauptung und Nutzen für Andere, die als Prinzip das Überleben sichert. An den Bäumen können wir dies sehen. Die Jahresringe zeigen, was der Baum aus dem ihm zur Verfügung stehenden gemacht hat. Der Baum wächst so, dass die Seele, der Mittelpunkt seiner Jahresringe, immer spannungsfrei ist. Dazu verteilt er das, was er von außen erhält in Form dieser Jahresringe entsprechend. Egal, ob der Sturm ihm eine Form oder ein Stein ihm seinen Weg aufzwingt, er wird seine Seele entlasten, ohne dass wir es von außen sehen können. Diese Strategie haben die Bäume über viele Millionen Jahre entwickelt und erfolgreich gemacht.
Bewusstsein und bewusst sein als Entwicklungsziel: Wenn wir den Menschen vor mehreren 100.000 Jahren betrachten, so vermuten wir heute einen damaligen Bewusstseinsstand, der unseren heutigen Affen entspricht. Diese Entwicklung zum heutigen Menschen ist im Kern eine Bewusstseinsentwicklung die sicher noch lange nicht abgeschlossen ist. Es gibt auch Hinweise, dass andere Lebewesen, wenn auch an einer anderen Stelle der Entwicklung, den gleichen Weg gehen.
Wenn Bewusstsein ein Entwicklungsthema ist, ist es auch eine Variable, sicher eine kontinuierliche Variable. Gibt es kein Minusbewusstsein, stellt sich die Frage nach dem Nullpunkt und dem Maximum. Den Nullpunkt können wir irgendwo bei einer unbelebten Materie ansiedeln. Wobei ein Künstler dies für seine Bilder möglicherweise bestreiten würde. Das Maximum ist begrifflich schwer zu fassen. Folgen wir kontemplativen oder meditativen Disziplinen so hat es etwas mit der Erfassung der Ganzheit zu tun, einer Ganzheit in mir und meiner Wirkung in der Welt.

Entsprechung im Mittleren: Wie erfüllt ein, mein, Leben seinen Sinn?

Wenn wir alles derzeitig existierende als eine Momentaufnahme der Evolution betrachten, ist die Evolution selbst dafür der übergeordnete Bezugsrahmen.

Ständiger Wandel: Wir werden geboren, wachsen, werden erwachsen, gestalten uns und unsere Welt, altern und sterben. In diesen unterschiedlichen Lebensphasen sind wir aufgefordert uns ständig zu verändern und anzupassen. Das bedeutet, dass ich, wenn ich Lernaufgaben oder Veränderung verweigere, aus dem Fluss des Lebens heraustrete. Dies gilt für inneren Werte und Bedürfnisse ebenso wie für das Tun und Handeln im Außen.
Rekursion: Die Lebensrealität, in die wir hinein geboren wurden, ist die Ausgangssituation, von der aus wir die Verantwortung für unser Werden tragen. Als Erwachsene können wir nicht mehr die Verantwortung für unsere Lebenssituation an unsere Eltern oder unserer Herkunft delegieren. Das was uns im Leben begegnet, ist letztendlich das was wir wollen. Damit beginnt Veränderung im Außen, bei einer Veränderung in mir.
Nutzen: Wir nützen, ob wir wollen oder nicht. Ob wir den Nutzen oder den Sinn unserer Existenz erkennen ist davon unabhängig. Nur, wenn wir uns um das Erkennen von Nutzen und Sinn bemühen, werden wir Mitgestalter. Dann sind wir Akteure in einem Netzwerk von Akteuren. Glück, so zeigt uns die Forschung, ist keine Funktion von Erfolg, Gesundheit oder Geld. Wollen wir Glück, oder etwas bescheidener Zufriedenheit, so müssen wir dies in uns selbst suchen.
Bewusstsein und bewusst sein als Entwicklungsziel: Welche individuellen Ziele wir uns in unserem Leben auch verfolgen mögen, die Evolution hat dieses übergeordnete Ziel, Bewusstseinsentwicklung, für uns vorgesehen. Das Leben wird uns die Aufgaben und Prüfungen bereit halten, an denen wir wachsen und uns entwickeln können.

Entsprechung im Kleinen: Welchem Sinn und welchem Wert folgen meine Handlungen?

Die Sinngebung meines Lebens ist der übergeordnete Bezugsrahmen für mein Tun, und das Hier und Jetzt, das Anwendungsfeld. Dabei werden wir zwangsweise schuldig werden, denn in der Unvollkommenheit unserer Wahrnehmung und unseres Bewusstseins sind wir wie der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen.

Ständiger Wandel: Maschen, Verhaltensmuster, Stammesgesetze oder mechanistische Problemlösungsstrategien sind Stereotypen, die nicht dem ständigen Wandel entsprechen. Meine inneren Bilder einer zukünftigen Realität sind dabei die Führungsgröße für meine Bedürfnisse, meine Handlungen und meine Lebensrealität. Damit ist dort der Wandel zu verankern. Da diese inneren Bilder meist unbewusst sind, kommen Methoden der Selbsterfahrung, Selbstreflexion und Selbstwahrnehmung für die inneren Wirkungsmechanismen in den Fokus. Im Außen sind dies primär alle Methoden zur Entwicklung einer erweiterten Wahrnehmung.
Rekursion: Alles was wir tun beeinflusst auch uns selbst wieder. Die Physik lehrt uns, dass die Schwingung, die wir aussenden erhalten bleibt. Senden wir also negatives, destruktives, werden wir negatives und destruktives ernten. Senden wir positives, nährendes, so wird dies uns auch begegnen. Damit tragen wir mit Verantwortung an dem Glück oder Unglück, das wir erfahren.
Nutzen: Es ist die Achtsamkeit für uns und das Außen, die uns hier Orientierung gibt. Sowohl die Selbstverleugnung, die Negierung eigener Bedürfnisse und Werte, als auch Egozentrik entsprechen nicht einer evolutionären Strategie. Dies zeigt auch die Erforschung erfolgreicher Verhaltensstrategien. Interaktionsmuster, die entweder durch Anpassung dominiert sind oder durch Aggression, sind langfristig nicht erfolgreich, werden ausgelöscht oder kannibalisieren sich selbst.
Bewusstsein und bewusst sein als Entwicklungsziel: Die Achtsamkeit für uns und das Außen, und die Wirkungsmechanismen der Rekursion sind uns nur zugänglich, wenn wir uns in einem übergeordneten Sinn bewusst sind, was wir wie tun. Das Bewusst-Sein unserer Stereotypen und deren Triebfeder ist die Voraussetzung für deren realitätsbezogenen Anwendung oder Veränderung. Sonst sind wir wie Puppen, die von unbekannten Fäden bewegt werden.

Synchronizität und Resonanz: Realitätsorientierung und Weltsicht?

Unsere Realitätsvorstellungen und unsere Weltsicht sind die Basis für unser Sein. Hier orientieren wir unser Verständnis bezüglich Veränderung, Rekursion im Sinne von Wirkungsausbreitung und Nutzen, bezüglich unseren Werthaltungen und Paradigmen. Als Orientierung kann hier die Chaostheorie und die Systemtheorie dienen.

Chaostheorie: Eine Eigenschaft chaotischer Systeme, die in sich rekursiv vernetzt sind, ist, dass sie bei Energiezufuhr in sich fraktale Eigenschaften ausbilden. Dies bedeutet, dass wir je nach Ausschnitt den wir betrachten, immer wieder die gleichen Strukturen erkennen können. Aber auch, dass unterschiedliche Strukturen nicht in einem Widerspruch zu dieser Eigenschaft stehen. Die Eigenschaft fraktal kennt dabei keine Grenzen. Dies bedeutet, dass, wenn wir sie in einem Bereich erkennen oder nachweisen können, sie in dem gesamten System vorhanden sein muss. Diese Eigenschaft ist in vielen Bereichen unserer Welt und unseres Kosmos nachgewiesen. Damit ist unsere gesamte Realität ein chaotisches System. Wenn wir dies anerkennen, hat jegliches mechanistische Denken seine Berechtigung verloren. In letzter Konsequenz bedeutet dies, dass in jedem Teil oder Ausschnitt unserer Realität die Information über das Gesamte enthalten sein muss. In den Methoden der systemischen Therapie und der systemischen Organisationsentwicklung wird dies schon genutzt. Ebenso können wir dies in meditativen Übungen erfahren oder intuitive Erkenntnisse damit erklären.
Greifen wir noch einmal auf, dass chaotische Systeme bei Energiezufuhr fraktale Eigenschaften ausbilden. Die Frage nach dieser treibenden Energie werden wir je nach unserer Profession unterschiedlich beantworten. Ein Astrophysiker denkt hier vielleicht an den Urknall, andere an Macht oder an Geld, wieder andere an Liebe. Glaubenssysteme benennen sie mit Gott, Allah, Krishna, Buddha, ... Wie wir es auch immer heißen, die fraktale Eigenschaft legt nahe, das eine solche Grundenergie vorhanden sein muss.

Systemtheorie:
Wenn wir den Nutzen eines Systems betrachten, so muss dieser immer außerhalb dieses Systems seine Orientierung finden, sonst betreiben wir ein sich selbst bestätigendes System. Dies ist eine zusätzliche Begründung, warum wir Maßstäbe außerhalb unseres begrenzten Bewusstseins brauchen. In der Natur können wir an vielen Stellen erkennen, dass Systeme, hier Pflanzen oder Tiere, darüber ihre Existenzberechtigung bekommen. Andererseits sollten wir aus unserer Begrenztheit nicht die Schlussfolgerung ziehen, dass, wenn wir den Nutzen nicht erkennen, auch keiner vorhanden ist. Letztendlich mündet dies in eine Achtung vor allem was ist.
Nutzen entsteht durch Interaktion von Systemen. Dabei ist die Synchronizität unterschiedlicher Systeme die Voraussetzung für eine optimale Interaktion. Dies bedeutet, dass die Systeme sich in ihrer inneren Dynamik entsprechen müssen. In neuen Konzepten der Organisationsentwicklung wird dies heute schon verfolgt. Dabei wird die innere Dynamik des Unternehmens dem Markt angepasst, mit Auswirkungen auf alle internen Interaktionen, wie Führung, Personalentwicklung, Mitarbeiter- und Kundenorientierung, dem Ressourcenmanagement oder der Gestaltung von Geschäftsprozessen. Die gleiche Sichtweise lässt sich auf Unterstrukturen wie Abteilungen, Teams oder Einzelpersonen übertragen. Unsere Persönlichkeit, als unsere innere Systemdynamik angesprochen, sagt uns wo wir gut sein können und wo nicht. Damit ist Persönlichkeitsentwicklung immer auch Qualitätsentwicklung.

Die Varietät eines Reglers muss größer sein als die Varietät der Regelstrecke. Wenn wir als Regelstrecke unsere Realität betrachten, so hat diese ein Höchstmaß an Varietät, eine unerreichbare Vielfalt an Systemzuständen. Damit sind wir mit unserer Begrenztheit des Wissen und des Verständnisses eigentlich nicht in der Lage dieses System in guter Weise zu beeinflussen und zu steuern. Das Wort eigentlich benutze ich deshalb, weil wir für unsere Existenz andererseits gezwungen sind Einfluss zu nehmen. Dies wird ohne Fehler nicht machbar sein. Wenn wir jedoch bereit sind aus unseren Fehlern zu lernen, sie sind wohl die besten Lernfelder, können wir von Entwicklung im Sinne der Evolution reden.

Dualität: Kräftegleichgewicht als Prinzip?

Akzeptieren wir, dass unsere Realität chaotisch aufgebaut ist, folgt zwangsläufig, dass in allem was wir mit einem polarisierenden Begriff belegen, werten und einordnen, auch der Gegensatz enthalten ist. Damit kann nichts gutes existieren ohne etwas schlechtes, keine männliche Qualität ohne eine weibliche, kein Yin ohne ein Yang. Dies alles sind nur Wertungen und Einordnungen die sich aus unterschiedlichen Blickrichtungen auf das Selbe ergeben. Personenschaft, das Verständnis, dass wir zwar einen männlichen oder weiblichen Köper besitzen, aber zur Ganzheit gehört, dass wir unseren inneren Mann und unsere innere Frau ausgewogen leben, ist dann gelebte Dualität.

Die Begriffe Macht und Ohnmacht zeigen in die gleiche Richtung. Über Zwang, bis hin zu Existenzängsten, lassen sich enorme kreative Kräfte freisetzen. Gleichzeitig baut sich ein Potenzial auf, das sich gegen diesen Zwang richtet. Damit beginnt eine Spirale des Kräftemessens mit unterschiedlichen Mitteln. Widerstand fördert Kontrolle, Sanktionen und Zwang. Die Überanpassung führt die ursprüngliche Intension ins Absurde. Es wird nach Vorschrift und Anweisung gehandelt, ohne die reale Situation zu berücksichtigen. In dogmatisch strukturierten Systemen, z.B. Organisationen die von Planbarkeitsvorstellungen geprägt sind, können wir dies in einer Vielzahl beobachten. In der Anerkennung und im Kräftegleichgewicht liegen die gleichen Potenziale für die kreativen Kräfte, in Form von intrinsischer Motivation. Nur bildet sich über die hier mögliche Autonomie eine grundsätzliche Anpassungsfähigkeit heraus, so dass sich eine höhere Flexibilität und damit Fehlertoleranz ergibt. Gleichzeitig haben letztere Systeme eine höhere Übereinstimmung mit den Prinzipien der Evolution und entsprechen eher der Synchronizität.

Maßstab der Maßstäbe

Doch halt, dies alles sind nur Produkte meines Geistes, ausgelöst durch meine begrenzte Wahrnehmung, gefiltert durch mein eingeschränktes Bewusstsein und ausgedrückt in einer Sprache mit einer endlichen Anzahl von Begriffen. Kann ich dem dann wirklich trauen?

Wenn es mir gelingt meinen Geist still stehen zu lassen, z.B. durch Meditation der Leere, und sei es nur für einen Augenblick, dann lichtet sich vielleicht das Filter meiner Wahrnehmung, hört mein Bewusstsein auf zu werten, dann kann ich für diesen Augenblick Wahrheit erfahren. Nur wird vermutlich die Sprache nicht ausreichen davon zu berichten. Den Erfolg dabei kann mir niemand garantieren, einen Nutzen kann ich nur aus meinen Bedürfnissen ableiten und den Mut für dieses Wagnis finde ich nur in meinem eigenen Vertrauen in die Welt.